Plädoyer für den Osten. Wiedervereinigung, wann?

Ostdeutschland. Am 14.04.2024 war bei rnd.de (Redaktionsnetzwerk Deutschland) zu lesen: „Die Lohnlücke zwischen Ost und West bleibt groß: Ein Fünftel verdienen Vollzeitbeschäftigte in Ostdeutschland weniger. Mit 12.800 Euro Unterschied pro Jahr ist die Lücke sogar größer als 2020 und 2021.“ 1

Die Feststellung, dass die Wiedervereinigung zwischen West- und Ostdeutschland niemals ernsthaft in Angriff genommen wurde, ist nicht neu. Im Gegenteil. Jahr um Jahr können wir Meldungen wie die des rnd lesen und hören. Daher muss die Betonung in der Headline des rnd auf „bleibt“ lauten. „Die Lohnlücke zwischen Ost und West bleibt groß“.

„Die Lohnlücke zwischen Ost und West bleibt groß“.

https://www.rnd.de/politik/lohngefaelle-in-deutschland-ostloehne-noch-immer-21-unter-westniveau-H3DZV4MDRNG33APOKSZ2XG7CUA.html

Meldungen, nach denen mal hier das Gehaltsgefüge, mal dort die komplette Infrastruktur oder irgendetwas anderes, im Osten weit hinter dem Standard im Westen zurück hängt. Welchen Bereich wir dabei auch betrachten, klar ist, dass gerade die Menschen, die im Osten geblieben siind, das alles sehr genau wahrnehmen. Auch ohne Schlagzeilen. Dass sich Ostdeutsche nach wie vor nicht als vollkommen gleichwertig gegenüber „Wessis“ empfinden können und das auch an die nächste Generation vermitteln, ist nur allzu nachvollziehbar, wenn wir uns vor Augen führen, dass ihnen von Altkanzler Kohl (CDU) blühende Landschaften versprochen wurden und doch nur Raubbau an Industrie und Arbeitskräften vonstatten ging. Einerseits hatten sich Westkonzerne direkt nach der Wende den Osten in Aufbruchsstimmung untereinander aufgeteilt, andere ganze Branchen hatten die „neuen“ Bundesländer förmlich überrannt – wie zum Beispiel die Versicherungsbranche. Auch rund 35 Jahre nach der Wende haben sich die blühenden Landschaften Kohls nur für die Reichsten (aus dem Westen) verwirklicht. ‚Unten‘ ist die Wirklichkeit die, dass sie nicht allzu viel Fantasie mitbringen müssen, um die Lücke sowohl in materieller Hinsicht wie auch in Sachen sozialer Akzeptanz unweigerlich zu bemerken.

Mich wundert es nur wenig, dass es auf breiter Front einen gewissen Verdruss auf die Bundesrepublik Deutschland gibt. Leider sind die Adressaten – in gewohnter Manier und allen voran von Neoliberalen forciert – der Staat und seine Institutionen anstatt die großen Nutznießerinnen dieser verwerflichen Nicht-Entwicklung, nämlich Wirtschaft, Lobbyorgansationen und deren Handlanger. So lange wir den Osten als das schlechtere Deutschland stigmatisieren, den „Ossi“ als grundsätzlich dümmer herbeifabulieren und meinen, die Menschen dort würden aus Trotz oder Wut erst die NPD, lokale Rechtsradikale und schlussendlich die AfD flächendeckend unterstützen oder zumindest dulden, dann begehen wir die gleichen Fehler, wie die Wende-BRD ab 1989.

Sei es einmal dahin gestellt, welche Form des Wirtschaftens und Zusammenlebens die bessere ist, dass gerade die Auswüchse kapitalistischer Verselbstständigung ganzer Wirtschaftszweige massiven Einfluss darauf hatten und haben, dass sich „der Osten“ nie ernsthaft emanzipieren konnte und kann, bleibt doch unumstritten. Wer ständig kleingehalten wird, wird sich unweigerlich über abstraktere Konstrukte zu definieren versuchen.

Ich wage zu behaupten, dass ein permanenter Zustand negativer Fremdzuschreibungen die vielen kleinen Keime der regionalen Emanzipation unter sich begraben und in die Arme von Menschen treibt, die ganz genau wissen, wie man sich diese Kontinuität zu Nutze macht. Gewissermaßen ebnet die kontinuierliche Form der Schmäung der Bundesländer östlich der alten 89er BRD-Grenzen den Weg der Betroffenen in die Arme des palingenetischen Ultranationalismus‘. Es geht also um das Versprechen einer Art Wiedergeburt – nämlich der „guten alten Zeit“, in der „Zucht und Ordnung“ herrschten und weder „Wokeness“ noch „political correctness“ dem glorifizierten Führer (welcher das auch immer sein mag) weder etwas anhaben konnten noch können. Das klingt natürlich klasse, wenn du dich sowohl vom Regierungsstaat als auch von der Mehrheitsgesellschaft sowie der alles Maß vorgebenden Wirtschaft permanent verkauft fühlst. „Die Ossis“ als Schuldige daran zu benennen ist sehr einfach – und aus westdeutscher Perspektiv nicht nur logisch sondern auch legitim und überhaupt ein hervorragendes Mittel, sich selbst von dem Thema freizumachen. Wäre da nicht die aktuelle Situation, in der der antidemokratische Blues vermehrt auch den Westen erreicht und ansteckt.

Palingenetischer Ultranationalismus? Wer mehr über „palingenetischen Ultranationalismus“ (das ist ein Begriff aus der Faschismus-Forschung) erfahren möchte, sollte sich unbedingt mit Roger Griffin beschäftigen. 2 Unten habe ich einen Link zu einem wichtigen Werk hierzu eingefügt.

Alles Rechtsextreme im Osten?

Bisweilen sind das vor allem Dinge wie Patriosmus, „Heimat“ oder im ärgsten Fall Nationalismus. Alles Dinge, die man vollkommen willkürlich besetzen und erklären kann. Jeder, wie er braucht, quasi. Wobei gerade der Hang zum Nationalismus oder zu dessen Duldung massiv bezeugt, wie zerrissen die Gesellschaft gerade im Osten des Landes sein muss. Einerseits wird der Staat nahezu verteufelt, andererseits als der persönliche Heilsbringer empfunden. Ein perfektes Einfallstor für autoritäre, menschenverachtende Selbstdarsteller. Umso größer ist mein Respekt den vielen Gruppen und Einzelpersonen, einzelnen politischen Parteien und Organisationen gegenüber, die sich immer wieder gegen diese Entwicklungen stellen. Denn auch wenn viele Urban-Legends über Ostdeutschland kursieren, so ist keine, dass Rechtsextreme im Osten eine viel selbstverständlichere Art ihrer Hass-Ideologie ausleben als im Westen. Natürlich mit regionalen Ausnahmen. Alles in allem ist Antifaschismus im Westen etwas, das zum guten Ton gehört. In einigen Hochburgen in Ostdeutschland sieht das schon anders aus. Da ist ein klares Bekenntnis zu Antifaschismus, zu Antirassismus oder einfach zum bestehnden Parteiensystem gleich einer Kriegserklärung gegen die gesamte Dorfgemeinschaft. Das ist keine neue Entwicklung, aber eine, die wir im Westen nie sehen wollten. Ein zufällig ausgewählter Artikel über ein Dorf in Sachsen-Anhalt bei Deutschlandfunk von 2015 bescheinigt: „Von Neonazis unterwandert. Klein, idyllisch, rechtsradikal.“ 3 Das war also weit vor der AfD wie wir sie heute kennen.

Trotz alledem: Der Osten ist nicht verloren und war es nie – wir im Westen müssen endlich dafür kämpfen, das System, das Ostdeutschland permanent ausnimmt und systematisch unterdrückt hält, Stück für Stück in die Schranken zu weisen. Ein System, das seiner Strutkur nach Einfluss für Mächtige und Wohlstand für Reiche festschreibt, ist ein System, das Ausgrenzung und nach unten treten in seiner DNA trägt, gebirt unweigerlich sämtliche Formen von Rassismus.

Wirklicher Antifaschismus ist kapitalismuskritisch und ist an die Mächtigen aus Politik und Wirtschaft gerichtet. Er besteht niemals aus „nach unten treten“. Wenn wir Wessis uns also als Antifaschisten begreifen wollen, müssen wir endlich begreifen, dass nicht der einzelne Rechtsextreme aus Saalfeld das Problem ist. Er ist ein Symptom. Symptom einer Gesellschaft, die den Menschen ausblendet, in Humankapital denkt und Dividenden über das einzelne Individiduum stellt und sogar über die Wissenschaft. Der Fisch stinkt zuerst vom Kopf her.

Ich gebe den Osten nicht auf.

  1. Lohngefälle in Deutschland: Ostlöhne noch immer 21% unter Westniveau (rnd.de) ↩︎
  2. Der Faschismus in Europa (degruyter.com) ↩︎
  3. Von Neonazis unterwandert – Klein, idyllisch, rechtsradikal (deutschlandfunkkultur.de) ↩︎

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