Der tragische Unfall einer Radfahrerin in Berlin am Reformationstag diesen Jahren ist eigentlich schon dramatisch und schlimm genug. Eine schwer verletzte, mittlerweile für tot erklärte Frau. Auf deutschen Straßen eigentlich „nichts Neues“, wenn wir es rein statisch betrachten. Die Frage nach den Ursachen wird auf ein maximal polarisierbares Thema gelenkt – Klima-Aktivisti. Wie sieht aber die Realität aus?
Straßenverkehrszahlen mit eindeutiger Sprache
Seit 1950 sind auf deutschen Straßen bei 2,31 Millionen Verkehrsunfällen rund 324 100 Menschen 1https://de.statista.com/statistik/daten/studie/3395/umfrage/bei-strassenverkehrsunfaellen-verletzte-personen/ verletzt worden. Im Jahr 2021 wurden deutschlandweit etwa 24,1 Tote je 1.000 Kilometer Straßenlänge erfasst. Bei fast 260 000 Verkehrsunfällen 2021 2https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1321917/umfrage/getoetete-im-strassenverkehr-in-deutschland-nach-strassenkategorie/ verstarben 2562 Menschen 3https://de.statista.com/statistik/daten/studie/185/umfrage/todesfaelle-im-strassenverkehr/.
Als wäre der Tod der 44jährigen Frau nicht schon schlimm genug, bot die Szenerie noch weiteren Sprengstoff. Ein Mann, der auf den Unfallverursacher einsticht und flüchtet, verstörte Passant:innen, die beobachten mussten, wie man versucht, eine unter einem Betonmischer eingeklemmte Frau zu befreien – und eine politische Debatte, jenseits aller Fakten bzw. schon weit dem Zeitpunkt, an dem es hätte echte Fakten gab. Zum Wohlwollen der Automobil-Lobby und Akteuren wie BILD und Co. Dass AfD und CDU nun rigorose Strafen fordern verwundert nicht. Der einstimmige Chor, pro Klimawandel und gegen Veränderungen, hat ein neues Lied gefunden, das er singen kann. Wenngleich es inhaltlich das gleiche Lied wie immer ist.
Etwas irritierend erscheint hierbei jedoch die Aussage der Innensenatorin Berlin, Iris Spranger (SPD), die da meint: „Es gibt keine Rechtfertigung dafür, das Leben anderer zu gefährden“ und weiter: „Diese Blockierer und Blockiererinnen nehmen die Bevölkerung bewusst in Geiselhaft und die Gefahren in Kauf.“
Frau Spranger würde es besser zu Gesicht stehen, sich eher Gedanken darüber zu machen, wie man Menschen mit Ihren Sorgen um die Zukunft mit Respekt gegenüber tritt, anstatt sich reaktionären Kampagnen anzubiedern. Die moralische Schuld gibt Frau Spranger direkt an „Die Letzte Generation“ weiter, die juristische Frage lässt sie dabei außenvor. Anders übrigens, als der Justizminister, der sich schon recht klar äußert, wenn er, an die Aktivisiti gerichtet, „langjährige Haftstrafen“ ins Spiel bringt.
Was schreibt die Presse zum Unfall in Berlin?
BILD: RADFAHRERIN VON BETONMISCHER ERFASST Retter stehen im Stau – wegen Klima-Klebern! 4https://www.bild.de/regional/berlin/berlin-aktuell/berlin-retter-kommen-wegen-klima-klebern-spaeter-zu-unfall-81787096.bild.html
BILD: CHAOTEN BLOCKIEREN RETTER 5https://www.bild.de/regional/berlin/berlin-aktuell/klima-chaoten-blockieren-retter-radlerin-in-kritischem-zustand-81807286.bild.html
Berliner Kurier: Irre! Klima-Aktivisten blockieren Rettungseinsatz der Berliner Feuerwehr 6https://www.berliner-kurier.de/berlin/irre-klima-aktivisten-blockieren-rettungseinsatz-der-berliner-feuerwehr-li.282181
Mainpost: Klima-Protest ohne Grenzen? Wenn Kleben Leben gefährdet 7https://www.mainpost.de/ueberregional/politik/panorama/klimaaktivisten-blockade-verzoegert-rettung-von-verletzter-radlerin-art-10955483
Express: Radfahrerin hirntot, Klima-Demo hindert Feuerwehr an Rettung 8https://www.express.de/panorama/berlin-schwerer-unfall-klima-demo-hindert-feuerwehr-an-rettung-366523
Infranken.de: Radfahrerin nach Unfall hirntot - Klima-Protest hielt Rettungskräfte auf 9https://www.infranken.de/deutschland/berlin-radfahrerin-hirntot-nach-unfall-klima-protest-hielt-rettungswagen-auf-art-5575283
Die Zeit: Klimaprotest führt offenbar zu Verzögerung von Rettungseinsatz In Berlin wurde eine Radfahrerin von einem LKW überrollt. Rettungskräfte trafen laut Berichten verspätet ein – wohl, weil Klimaaktivisten die Stadtautobahn blockierten. 10https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-10/letzte-generation-klima-protest-strassenblockade-verkehrsunfall-berlin?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.startpage.com%2F
Berliner Kurier: Radfahrerin in Klinik gestorben: Jetzt schieben die Klima-Kleber von „Letzte Generation“ die Verantwortung der Polizei zu! 11https://www.berliner-kurier.de/berlin/radfahrerin-in-klinik-gestorben-jetzt-schieben-die-klima-kleber-von-letzte-generation-die-verantwortung-der-polizei-zu-li.283541
Klima-Kleber sorgten für Stau: Frau nach Betonmischer-Unfall tot 12https://www.merkur.de/deutschland/berlin/polizei-berlin-opfer-stau-betonmischer-kritik-klimaaktivisten-unfall-rettungswagen-feuerwehr-91887153.html
Auf den Boden der Tatsachen zurück
Die Realität in Berlin sieht dabei so aus: Darauf gab es 2021 je Kilometer Autobahn insgesamt 570 Staukilometer. „Damit belegt Berlin eindeutig den bundesweiten Spitzenplatz“, so der ADAC 13https://www.rnd.de/panorama/wie-viel-schuld-traegt-die-letzte-generation-am-tod-einer-berliner-radfahrerin-HCVHQ5BWSBD7HLQW6XWN7OKCPI.html.
Nicht wenige Menschen zeigen sich erschüttert, zumindest irritiert über die Leichtigkeit, mit der die deutsche Medien- und Politwelt in weiten Teilen einen Sachverhalt auf den einen Punkt vereinend herunterbricht, der Ihnen unbequem: Menschen, die Veränderungen wollen. Umso eindrücklicher erscheint hier der Beitrag des Berliner Notfallsanitäters Jan Ziege auf Twitter in einem emotionalen Thread aus dreizehn Tweets 14https://twitter.com/ZiegeJan/status/1587604593197867008:
Ich möchte noch etwas ausführlicher zum Thema "Klimaaktivist*innen - Stau - Rettungsgasse" schreiben. Aus der Sicht eines Rettungsdienstlers in Berlin. Vorab: Ich möchte das ganze von dem furchtbaren Unfall so gut es geht loslösen. Gewähren wir dem Unfallopfer Ruhe. Die Diskussion wurde direkt nach dem ersten "Kleben" geführt. Weil man außer dem Zeitverlust der Individuen und dem angeblichen massiven Wirtschaftsverlust (🙄) nicht viel machen konnte von Seiten der Medien und Last-Gen-Kritiker: Was, wenn ein Rettungswagen blockiert wird? Als jemand, der tagtäglich im Berliner Verkehr mit Sonderrechten unterwegs ist, ein paar Gedanken dazu: - ja, auch Rettungsdienste sind durch den Klima-Streik betroffen. - ja, wir kommen durch Staus verlangsamt und verzögert zu Einsatzorten - ja, in letzter Konsequenz durchgedacht kann also auch der Klima-Streik einen Anteil daran haben, dass ein Mensch zu Schaden kommt Das ist furchtbar und als jemand, der entgegen den Journalist*innen TATSÄCHLICH vor Ort ist kann ich sagen: man will das nicht. Aber. Der Klima-Streik SOLL den Verkehr treffen. Und unmittelbar klar machen, wo wir sind. In einer Welt der Blechlawinen. Zu einer Zeit des Klimakollapses. Ja, ich bin auch schon genervt gewesen von den Streiks. Erinnert ihr euch an Piloten-Streiks? Die machen das zu Urlaubszeiten um maximal zu stressen! Da kann auch jemand eventuell nicht den entscheidenden Flug bekommen um seine sterbende Mutter noch einmal zu sehen. Das klingt übertrieben? Ja. Ist es auch. Exakt so übertrieben wie diese Diskussion. TAGTÄGLICH stecken wir Rettungskräfte im Stau fest. Jeden einzelnen verdammten Einsatz!!! Die Gründe sind mit WEITEM Abstand folgende: - Falschparker*innen - "Zweite-Reihe-Parker*innen" - Baustellen - Fehlende Rettungsgassen - Generell viel zu viele Autos auf viel zu wenig Platz Wenn jetzt hier auf einmal die ganzen Menschenfreunde herkommen und sich berufen fühlen, etwas zum Schutz der Patient*innen zu tun: - dann klärt die Leute über die korrekte Rettungsgasse auf - ahndet endlich Falschparken - fahrt nicht alleine mit einem Auto in die Stadt. Hier die Schuld bei den Klima-Aktivist*innen zu suchen ist respektlos dem Unfallopfer gegenüber, heuchlerisch, verlogen und hetzerisch. Und auch die Berliner Feuerwehr, die sich jetzt ganz empört hinstellt, könnte da selbstkritisch rangehen. - Konsequente Ahndung von Verstößen gegen § 38 StvO in den Einsätzen via Polizei - gezieltere Disponierung mit z.B. aktueller Staulage und optimaler Anfahrt - Indienststellung weiterer Fahrzeuge zur engeren Abdeckung der Stadt Aber es ist ja viel einfacher, einen nur in kleinsten Teilen kausalen Zusammenhang zu unliebsamen Protesten zu nehmen und DAS zu einer Schlagzeile zu machen. Ach ja....wenn wir wirklich nachhaltig Fahrradfahrer*innen schützen wollen, dann hier ein paar Pro-Tipps: - Auto-freie Innenstädte - verpflichtende Abbiegeassistenten - seperate Fahrradspuren - Helmpflicht - einen Planeten erhalten, auf dem man noch Fahrrad fahren kann Das wären alles Maßnahmen, die sofort helfen könnten. Aber nein.... ihr wollt ja nur weiter meckern. Dann macht das. Aber wenn ihr schon keine echten Argumente habt, dann hört auf Notfälle zu instrumentalisieren, wenn euch 95% der anderen Gründe, warum Hilfe zu spät kommt, schon immer einen Scheiß interessiert haben.
Falsch Parkende, keine Rettungsgassen, die von der Politik blockierte Verpflichtung von Abbiegeassistenten, zu viele Autos, zu viele Staus – ganz viele Punkte, die er hier anbringt. Punkte, die wir alle im Alltag in jeder Großstadt erleben, teils sogar in Städten wie Taunusstein. Tagtäglich. Da braucht es keine Aktivisti, um ganze Innenstädte lahmzulegen. Das schafft die automotive Gesellschaft schon ganz allein. Tagtäglich. In Berlin ist zudem alles etwas größer – damit auch die Staus.
Wieder einmal waren also Berliner Straßen derart verstopft, dass schlichtweg kein rechtzeitiges Durchkommen für die Rettungskräfte gewährleistet war. So oder so wäre der Rettungswagen nicht rechtzeitig gewesen. Die Straßen zu eng, zu viele Lkw, Lieferwagen und Menschen, die bis heute nicht verstehen wollen, dass eine Rettungsgasse keine Drangsaliererei durch die Behörden sondern lebenswichtig ist. Dazu kommt, dass der Rettungswagen mitten in den Stau auf der A100 hinein fuhr anstatt ihn zu umfahren. Der Feuerwehr jedenfalls war sowohl der Stau als auch die Aktion der Aktivisti bekannt. Das hätte anders laufen können.
Ja, die Aktion hat den Verkehr behindert, ohne Frage. Jeder Auffahrunfall hätte es an der Stelle genauso getan. Eine Protestmaßnahme, die nicht die Komfortzone der Masse angreift, ist einfach keine Protestaktion sondern eine Freizeitveranstaltung zum netten meet & greet. Ob Protest oder Streik, die Aktion muss stören.
Neben den medialen Totalausfällen gibt es große Blätter wie die Süddeutsche, die zwar erst mit auf den Zug der Tiraden aufgesprungen sind, sich im Verlauf aber dann doch für ein objektiveres und realistischeres weiteres Vorgehen mit dem Sachverhalt entschieden hat. So schreibt die SZ auf Ihrer Website:
Klimaprotest hatte keinen Einfluss auf Versorgung des Unfallopfers: Nach Einschätzung der behandelnden Notärztin beeinträchtigte der Stau, den Aktivisten in Berlin auslösten, die Rettung der verunglückten Radfahrerin nicht. 15https://www.sueddeutsche.de/politik/letzte-generation-unfall-berlin-radfahrerin-1.5686980?reduced=true
Wir können zu Gruppen wie „Die Letzte Generation“ stehen, wie wir wollen. Es ist legitim, zu hinterfragen, was und wie sie es tun. Auch wenn ich definitiv anderer Meinung bin, kann ich akzeptieren, wenn einzelne Menschen sehr skeptisch der Vehemenz gegenübersteht, die sich da vermehrt auftut, im Kampf gegen die Klimakrise. Veränderungen sind erforderlich – das macht vielen Angst oder verunsichert sie zumindest.
Wofür ich allerdings keinerlei Akzeptanz finden kann, ist die Tatsache, dass sich Journalist:innen – ganz gleich, ob sie sich links, liberal, konservativ oder rechts einordnen, sämtliche Grundsätze journalistischer Arbeit ignorieren und aktiv Keile in die Gesellschaft treiben, letztlich mit dem Ziel, bei Facebook oder sonst irgendwo im Netz einen Stich zu landen und mehr Klicks abzugreifen, als die anderen. Das Spiel hatten wir schon bei Fridays For Future, die man versuchte flächendeckend mit Dreck zu überziehen, in der Hoffnung, die Bewegung würde vor lauter Genervtheit verschwinden. Das Gegenteil ist der Fall – weil es keine Trendfrage (mehr?) ist, sich gegen den menschengemachten Klimawandel einzusetzen. Es ist bittere Realität, es ist höchste Eisenbahn. Und genau die fehlen uns außerdem. Angebote im ÖPNV, die das Auto obsolet machen.
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- 13https://www.rnd.de/panorama/wie-viel-schuld-traegt-die-letzte-generation-am-tod-einer-berliner-radfahrerin-HCVHQ5BWSBD7HLQW6XWN7OKCPI.html
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