Ist die NATO im Ukraine-Konflikt streitbar?
Grundsätzlich stimme ich zu, dass Vorgehen und Argumente der NATO-Perspektive hinterfragt und erklärt werden müssen. Nicht zu Unrecht bringen NATO-Kritiker:innen an, dass der Nordatlantikpakt bereits in der Vergangenheit und fadenscheinigen Argumenten – vornehmlich von Seiten der USA – in Angriffskriege und Eskalationen gegangen ist. Soweit so richtig.
Ich vermisse in der ganzen Diskussion tatsächlich, dass Putin auch von linker Seite her kritisch hinterfragt wird. Dabei spielt es auch keine Rolle, ob man in die Diskussion mit eingefleischten Kommunist:innen geht oder weit weniger ideologisch festgelegten Menschen. Die Rufe nach „Frieden mit Russland“ werden zwar mit reichlich Kritik am Militärbündnis NATO unterfüttert, aber schier nie mit einer deutlichen Erklärung, wem da Solidarität zuteil werden soll.
Zu Russland fehlen Fragen
So, wie es an vielen Stellen steht, wirkt es für Außenstehende nachvollziehbarer Weise so, als würde Putin Linken ein Heilsbringer und Friedenstifter sein. Er ist weder das eine noch das andere. Weder nach innen noch nach außen. Ich bin mir sicher, dass das sehr vielen Frieden Fordernden klar ist. Und doch bleibt es ein Tabu-Thema.
Es ist gefährlich, dass sich Linke nicht deutlich gegen Putin aussprechen – zumal er mehr und mehr zur Galionsfigur Rechtsextremer avanciert.
Warum kann man nicht klar sagen: „Für Frieden mit Russland – aber gegen putin’schen Despotismus, korrupte Oligarchen-Lobbylei und hypernationalistische Tendenzen?“
Deutsch-Russische Freundschaft
Kampagnenmäßige Unterwanderung der Friedensbewegung
Die rechtskonservative Zeitung Die Welt veröffentlichte am 18.2.2022 den Artikel „Archivfund bestätigt Sicht der Russen„. In diesem Artikel geht es grob darum, dass beim 4-Gipfel im Jahr 1991, der deutsche Diplomat Jürgen Chrobog über ein Treffen zwischen den USA, Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland notiert habe:
„Wir haben deutlich gemacht, dass wir die Nato nicht über die Elbe hinaus ausdehnen“.
Chrobog über die 2-plus-4-Verhandlungen
Als Schlusswort konnte sich das Springer-Medium nicht nehmen lassen, klarzustellen, dass auf die NATO schon damals kein Verlass, denn und man habe kurze Zeit genau das Gegenteil von dem getan, was Chrobog notiert hatte.
Damit reiht sich ‚Die Welt‘ zeitlich passend auch in die thematische Neuorientierung der ohnehin von Rechtsextremen instrumentalisierten Querdenker-Szene ein. Diese haben, da mit Aufheben der meisten Coronaschutzmaßnahmen deren Existenzberechtigung aufgehoben wurde, ein neues, bei Neurechten beliebtes Thema als Leitmotiv. Bedingungslose Solidarität mit Russland. Im Zentrum beider Protagonisten steht freilich die Figur Putin, die wie der Messias einer unterdrückten westlichen Situation gleich einem sollten Zaren dahergeritten kommt.
Gegenwart: Falsche Zeit für Sowjet-Romantik
Hinsichtlich des Artikels der Welt, war einer meiner ersten Gedanken: 1991 liegt schon lange hinter uns. Putin ist nicht Jelzin. Das Russland von 1991 ist nicht das Russland von 2022. Und auch Osteuropa ist nicht das gleiche. Vergessen sollten wir an dieser Stelle nicht, dass niemand Osteuropa in die NATO gezwungen hatte.
Dass zudem Die Welt plötzlich diesen Artikel auspackt, sollte uns zudem besser etwas ganz anderes klarmachen: Die unkritische Solidarität mit Russland dient vor allem rechtsextremen Gruppen und Esoterik-Vereinen, die seit langem schon Vereine wie Drushba unterlaufen haben und den Begriff „Deutsch-Russische Freundschaft“ für Netzwerkausweitungen und Propagandaplatzierungen instrumentalisieren.
Dass hier Die Welt als Springer-Journalie kräftig mit einheizt und jetzt Querdenker auch endlich dort angekommen sind, sollte uns alle hinterfragen lassen, ob wir wirklich einen machtbesessenen, hypernationalistischen und nebenbei massiv homophoben Oligarchen-Kapitän unwidersprochen und bedingungslos vor Westpropaganda in Schutz nehmen wollen oder gar müssen. (Vergessen wir dabei nicht, dass gegen Putin nach außen sogar ein Rechtsextremer wie Nawalny als Aufklärer für die Freiheit wahrgenommen wird. Das sagt mehr über Putin aus als über Nawalny.)
Nicht Russland, Putin ist Gefahr für den Frieden in Europa
Solange Putin und sein Clan die Zügel in der Hand halten, kann ich keine uneingeschränkte Solidarität mit russischen Interessen heucheln. Denn die der Regierung unterscheiden sich letztendlich überhaupt nicht von denen der westlichen Regierungen.
Seit vielen Jahren sind es vor allem junge russische Linke, die fortwährend skandieren: „Путин украл будущее России“ (Putin hat die Zukunft Russlands getötet). Das Vertrauen nicht nationalistisch eingestellter Russ:innen in Staat und Regierung geht vielerorts gegen null. Das basiert nicht auf Westpropaganda sondern auf deren Lebensrealität, fernab von CNN, Facebook und Co.
Appell an die Friedensbewegung
Wenn wir in unseren Bemühungen für Frieden und freundschaftliches Miteinander ernstgenommen werden und gleichzeitig unserer Integrität bewahren wollen, müssen Forderungen endlich klar formuliert werden. Forderungen müssen auch von Friedensbewegung an Moskau gerichtet werden wie auch an Berlin, Paris, Kiew und Washington.
Frieden mit Russland, in Europa und transatlantisch kann nur funktionieren, wenn Aggressoren die Regierungsthröne verlassen und wirklichen demokratischen, transparenten Menschen das Steuer überlassen. Korruption und Lobbyismus höhlen Institutionen und ganze Staaten sukzessive aus und schwächen die Bürger:innen gegenüber Finanzinteressen. Kapitalismus unterhält per Definition Strukturen, die hochgradig unterdrücken und ausbeuterisch sind – genau die Dinge, die Menschen derart unzufrieden machen und verunsichern.
Frieden ist ein Gesamtkunstwerk, eine Partitur von Interessen und Forderungen und Perspektiven und Visionen. Lasst uns die Komponist:innen sein!